Pädagogik der Vielfalt ist ein Begriff, der von Annedore Prengel geprägt wurde. 1993 erschien ihr Buch "Pädagogik der Vielfalt" im Verlag Leske und Budrich. Im letzten Kapitel auf S. 184 stellt sie 17 Elemente zusammen:

  1. Selbstachtung und Anerkennung der Anderen
  2. Übergänge: Kennenlernen der Anderen
  3. Entwicklungen zwischen Verschiedenen
  4. Gemeinsamkeit zwischen Menschen mit ähnlichen Erfahrungen
  5. Innerpsychische Heterogenität
  6. Begrenztheit und Trauerarbeit - Entfaltung und Lebensfreude
  7. Prozesshaftigkeit
  8. Keine Definitionen
  9. Keine Leitbilder
  10. Aufmerksamkeit für die individuelle und kollektive Geschichte
  11. Aufmerksamkeit für gesellschaftliche und ökonomische Bedingungen
  12. Achtung vor der Mitwelt
  13. Didaktik des offenen Unterrichts
  14. Grenzen, Rituale und Regeln
  15. Kinderelend oder "Störungen als Chance"?
  16. Selbstachtung und Anerkennung der Anderen in der Rolle der Lehrerinnen und Lehrer
  17. Verschiedenheit und Gleichberechtigung als institutionelle Aufgabe.

 


"Elemente der Pädagogik der Vielfalt in der Flexiblen Schuleingangsphase"
Annedore Prengel sieht ihre Thesen zur Pädagogik der Vielfalt als Diskussionsbeitrag. Im Folgenden haben wie sie zur Flexiblen, jahrgangsgemischten und integrativen Schuleingangsphase in Bezug gesetzt.

1. Selbstachtung und Anerkennung der Anderen
"Ich bin nicht Du und ich weiß Dich nicht"
Michael Lukas Moeller (1986): Die Liebe ist das Kind der Freiheit. Reinbeck, S. 11
Wer andere anerkennen will, muss zuerst sich selbst anerkennen können. Selbstachtung ist also ein Lernziel für Pädagoginnen und Pädagogen und für die Kinder. Selbstachtung bedeutet sich selbst wahrnehmen zu können, und realistisch zu bewerten. Selbstachtung schließt sowohl ein, sich vor Übergriffen anderer abzugrenzen, nein sagen können, als auch andere als Partner anzuerkennen, sich auf sie einzulassen, ja zu sagen zu einer partnerschaftlichen Beziehung.

2. Übergänge: Kennenlernen der Anderen
Sich kennen lernen ist die Voraussetzung für das Zusammenleben in der Lerngruppe. Es setzt voraus, dass man sich auf den anderen einlassen will, neugierig auf ihn ist, sich für die Unterschiedlichkeiten und Einmaligkeiten der Menschen interessiert. Im Unterricht muss Raum geschaffen werden, dass Kinder sich kennen lernen können. In der Flexiblen und integrativen Schuleingangsphase sind auch Kennenlernprozesse zwischen behinderten und nicht behinderten Kindern möglich.

3. Entwicklungen zwischen Verschiedenen
In der Flexiblen Schuleingangsphase ist Raum, damit Entwicklungen zwischen verschiedenen Kindern stattfinden können: Patenschaften zwischen älteren und jüngeren Kindern, sich gegenseitig helfen, sich mit anderen zusammentun, die etwas besser können, um eine Arbeit gemeinsam zu bewältigen, zusammen spielen und lernen, wobei jeder sein Bestes einbringen kann. In bewusst partnerschaftlichem Tun entwickeln sich Beziehungen zwischen Verschiedenen. Die heterogene Lerngruppe wächst zu einer Lerngemeinschaft zusammen.

4. Gemeinsamkeit zwischen Menschen mit ähnlichen Erfahrungen
Kinder wollen sich auch mit gleichstarken Kindern messen. Im Kurs oder in der Arbeitsgruppe lernen sie auch zusammen mit Kindern, die ähnlich weit sind wie sie selbst. Die Differenzierung darf aber nicht zu dauerhafter Separation führen.

5. Innerpsychische Heterogenität
Eine Person kann zugleich sehr sportlich sein und dennoch kaum Zugang zu Schrift finden. Sie kann in einer Situation wütend werden und in der anderen Situation ruhig bleiben. Menschen unterscheiden sich nicht nur untereinander, sondern sind auch in sich unterschiedlich. Deshalb sprechen wir auch von verschiedenen Begabungen, die ein und der selbe Mensch in unterschiedlichem Maße entwickeln kann. Unterricht muss sich darauf einstellen.

6. Begrenztheit und Trauerarbeit - Entfaltung und Lebensfreude
Begrenztheit erleben ist hart. Um jedoch Lebensfreude entfalten zu können ist es auch nötig, Einschränkung und Scheitern erlebt zu haben. Nach Wut und Trauer über eigenes Versagen kann sich der Blick für die eigenen Potenziale neu öffnen. Es ist eine pädagogische Aufgabe Kindern Wut und Trauer zu gestatten und ihnen zu helfen, dann ihre Potenziale neu zu erkennen.

7. Prozesshaftigkeit
Lernprozesse der Kinder sind in der Flexiblen Schuleingangsphase zentral. Sie erhalten Raum, werden nicht unterbrochen oder in unpassender Weise zu beschleunigen versucht. Rhythmisierung und Flexible Verweildauer sind entscheidende Strukturmerkmale, mit denen es leichter wird, die Lern- und Entwicklungsprozesse der Kinder zum Ausgangspunkt der zeitlichen Rhythmen zu machen.

8. Keine Definitionen
Kinder werden in der Flexiblen und Integrativen Schuleingangsphase nicht als Erstklässler oder Zweitklässler, als Wiederholer oder Springer, als Türke oder Italiener, als Behinderte oder Nichtbehinderte, als guter oder schlechter Lerner definiert. Wenn Kinder beschrieben werden sollen, dann in ihrer Entwicklungsdynamik (z.B. "Peter hat sich im letzten Halbjahr sehr stark mit dem Lesenlernen befasst und ist zunehmend erfolgreich") und im Zusammenhang mit der Umwelt des Kindes (z.B. "Peter hat vor einem halben Jahr angefangen, sich für die Stadtbibliothek zu interessieren und ist dort mehrmals wöchentlich.")

9. Keine Leitbilder
Erwachsene legen nicht fest, was Kinder einmal werden sollen. Kinder haben ein Recht ihr eigenes Leben zu gestalten und die Pädagoginnen und Pädagogen unterstützen sie dabei, leiten sie zur eigenständigen Planung an, eröffnen Zugänge zur eigenen Lerngeschichte zum Beispiel indem frühere Aufgaben noch einmal angeschaut werden, sorgen für geeignete Identifikationsmöglichkeiten, die über das zuhause Erlebte hinausgehen.

10. Aufmerksamkeit für die individuelle und kollektive Geschichte
Zu der Reflexion der Frage "Wie bin ich geworden, wer ich heute bin?" kommt eine zweite Frage: "Wie ist unsere Lerngemeinschaft geworden, was sie gerade ist?" Ausgehend von der persönlichen Entwicklung verstehen Kinder die gesellschaftliche Entwicklung zunehmend.

11. Aufmerksamkeit für gesellschaftliche und ökonomische Bedingungen
Kinder interessieren sich für Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Sie beginnen von einer eher rigorosen Umsetzung solcher Gerechtigkeitsvorstellungen aus, die Bedingungen unter denen Ungerechtigkeit stattfindet zu analysieren. Demokratie ist ohne eine solche Analyse nicht vorstellbar. In einer Flexiblen Schuleingangsphase kann schon früh über gesellschaftliche und ökonomische Bedingungen gesprochen werden, weil die Lerngemeinschaft die nötige Grundsicherheit bietet.

12. Achtung vor der Mitwelt
Ökologisches Denken kann schon in der Schuleingangsphase entwickelt werden. Achtung vor der Mitwelt fängt schon da an, wo es um die Achtung vor den gemeinsamen Lernsachen geht. In einer Pädagogik der Vielfalt kann die bewusste Beobachtung des vielfältigen Lebens in der Natur ein wesentliches erzieherisches Element sein.

13. Didaktik des Offenen Unterrichts
Freiraum lassen und Sicherheit bieten gleichzeitig, das ist die Kunst des Offenen Unterrichts. Nur wenn das Lernangebot offen genug ist, um die Verschiedenheit der Kinder zu berücksichtigen, kann es geeignete Unterstützung der Lernprozesse jedes Kindes bieten. Offener Unterricht braucht aber eine Struktur, die sein Gefüge für alle transparent hält (z.B. Rhythmisierung, Wochenplanarbeit, Stationsarbeit oder andere methodische Elemente, Klassenraum als Werkstatt, Materialangebot für eigenständige Arbeit und Wissensaneignung, Kooperationsstrukturen, Leistungsdokumentation)

14. Grenzen, Regeln, Rituale
Grenzen und Strukturen (Regeln, Rituale) sind nicht starr, sondern sie bieten ein Gerüst für das individuelle Lernen in der Gemeinschaft. Dennoch ist Grenzen akzeptieren ein wichtiges Lernziel in der Schuleingangsphase. Dafür sind die Grenzen, Regeln und Rituale so weit es geht vereinbart und so, dass kein Kind durch sie in seiner Entwicklung eingeschränkt wird.

15. Kinderelend oder ‚Störungen als Chance'?
Verhaltens- oder Lernstörungen verweisen auf Probleme, die das Kind bewältigen will. Das geht besser, wenn die Klassenfamilie das Kind akzeptiert und annimmt. In der Flexiblen Schuleingangsphase ist nicht nur die Lehrperson Ansprechpartner für das Kind, auch die anderen Kinder kümmern sich und müssen deshalb lernen, wie man Störungen als Chance begreifen kann.

16. Selbstachtung und Anerkennung der Anderen in der Rolle der Lehrerinnen und Lehrer
Vielfalt existiert nicht nur unter den Schülerinnen und Schülern, sondern auch unter den Lehrerinnen und Lehrern. Selbstachtung besteht beispielsweise darin, seinen Tag zu rhythmisieren, sich Pausen zu gönnen, sich positiv zu stimme, seinen Tag und sein Leben zu reflektieren und zu planen. Anerkennung der Anderen bedeutet auch die Anerkennung, das jeder Kollege und jede Kollegin Bestimmtes besonders gut kann. In der Flexiblen Schuleingangsphase sollten diese unterschiedlichen Stärken in Teamarbeit gezielt genutzt werden.

17. Verschiedenheit und Gleichberechtigung als institutionelle Aufgabe
Die Flexible und jahrgangsgemischte Schuleingangsphase entspricht einer Pädagogik der Vielfalt am Schulanfang nur zum Teil, denn sie berücksichtigt strukturell die notwendige Kooperation mir dem Kindergarten und den Eltern nicht automatisch. Pädagogik der Vielfalt müsste schon im Kindergarten beginnen. Eltern aus unterschiedlichen Schichten und mit unterschiedlichem Bildungsstand aus verschiedenen Kulturen müssen als Erziehungspartner gewonnen werden. Das geht nur, wenn es gelingt, sie jeweils in ihrer Individualität zu akzeptieren. Es wäre aber sinnvoll, wenn eine Struktur, ein Ablauf, ein Zielgerüst angelegt würde, das es erleichtert, im Alltag diese Kooperationsaufgaben nicht zu vergessen.